Winterjournal by Auster Paul

Winterjournal by Auster Paul

Autor:Auster, Paul [Auster, Paul]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644030510
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2013-09-19T22:00:00+00:00


Mai 2002. Am Samstag das lange, lebhafte Telefongespräch mit deiner Mutter, und wie du danach zu deiner Frau sagst: «So glücklich hat sie sich seit Jahren nicht mehr angehört.» Am Sonntag reist deine Frau nach Minnesota ab. Für das nächste Wochenende ist eine große Feier zum achtzigsten Geburtstag ihres Vaters geplant, und sie fährt nach Northfield, um ihrer Mutter bei den Vorbereitungen zu helfen. Du bleibst mit eurer Tochter in New York, sie ist vierzehn und muss zur Schule, aber natürlich werdet ihr zwei ebenfalls zu der Party nach Minnesota fliegen, eure Tickets sind für Freitag gebucht. Du hast bereits ein lustiges gereimtes Gedicht zu Ehren deines Schwiegervaters geschrieben – die einzige Art von Gedichten, die du noch schreibst: neckische Spielereien zu Geburtstagen, Hochzeiten und anderen Familienfesten. Der Montag kommt und geht, alles, was an diesem Tag geschieht, ist aus deinem Gedächtnis gelöscht. Am Dienstag hast du um eins einen Termin mit einer Französin, sie ist Mitte zwanzig, lebt seit einigen Jahren in New York und soll im Auftrag eines französischen Verlags einen Stadtführer schreiben, und da dir diese Frau sympathisch ist und du sie für eine verheißungsvolle Schriftstellerin hältst, hast du dich einverstanden erklärt, mit ihr über New York zu reden, skeptisch, dass du ihr irgendetwas Brauchbares für ihr Projekt erzählen kannst, aber bereit, es immerhin zu versuchen. Um zwölf stehst du mit Rasierschaum im Gesicht vor dem Spiegel im Bad und willst gerade nach dem Rasierer greifen, um dich für das Interview salonfähig zu machen, doch bevor du auch nur ein einziges Barthaar in Angriff nehmen kannst, läutet das Telefon. Du gehst ins Schlafzimmer, greifst nach dem Hörer und versuchst ihn mehr oder weniger geschickt so zu halten, dass er nicht mit Rasierschaum in Berührung kommt, und dann vernimmst du ein Schluchzen, die Anruferin ist vollkommen außer sich, und nach und nach begreifst du, das ist Debbie, die junge Frau, die einmal wöchentlich die Wohnung deiner Mutter putzt und sie gelegentlich zum Einkaufen fährt, und Debbie erzählt dir jetzt, sie sei gerade in die Wohnung gekommen und habe deine Mutter auf dem Bett gefunden, deine Mutter leblos auf dem Bett, deine Mutter tot auf dem Bett. Dein Inneres scheint aus dir auszulaufen, als die Nachricht in dich einsickert. Du fühlst dich leer, ausgehöhlt, kannst keinen Gedanken fassen, und auch wenn du damit jetzt am allerwenigsten gerechnet hättest (So glücklich hat sie sich seit Jahren nicht mehr angehört), überrascht es dich nicht, das jetzt von Debbie zu hören, es bestürzt dich nicht, schockiert dich nicht, erschüttert dich nicht. Was ist mit dir?, fragst du dich. Gerade ist deine Mutter gestorben, und du hast dich in einen Holzklotz verwandelt. Du sagst Debbie, sie solle bleiben, wo sie ist, du kämst so schnell wie möglich (Verona, New Jersey – gleich neben Montclair), und anderthalb Stunden später bist du in der Wohnung deiner Mutter und siehst ihren Leichnam auf dem Bett. Du hast schon einige Leichen gesehen, du bist vertraut mit der Reglosigkeit der Toten, mit der unmenschlichen Stille, die die Körper



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